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(riss)

mit dem frühling kamen die menschen und ihre stimmen. ich saß mit zusammengebissenen zähnen. ein würgen im hals. das war der riss in der wand. er trennte mich von denen, die eingewoben waren. ein verliebtes pärchen schlenderte flüsternd an mir vorbei. die heimlichen worte einer sprache, die ich nicht beherrschte. ich bin glücklich, hörte ich, unsagbar glücklich. ein klebriger zungenschlag. ich schluckte das würgen hinunter.

milena michiko flašar „ich nannte ihn krawatte“

(gewebe)

ich versuchte nicht, mich zu täuschen. nach wie vor ging es darum, für mich zu sein. ich wollte niemandem begegnen. jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. es wird ein unsichtbarer faden geknüpft. von mensch zu mensch. lauter fäden. kreuz und quer. jemandem zu begegnen bedeutet, teil seines gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden.

milena michiko flašar „ich nannte ihn krawatte“

(über wasser halten)

das was ich mache, das kommt aus der einsamkeit, aus dem was ich alleine erfunden hab um mich über wasser zu halten. nicht nur finanziell sondern auch überhaupt – vor den leuten – um zu bestehen als künstler.

helge schneider in „deutschland, deine künstler“(ard)

(warten)

doch natürlich warten wir immer auf etwas. wenn nicht auf den herrgott oder den jüngsten tag, dann auf etwas anderes, denn das leben besteht zu einem großen teil aus nichts anderem als warten; was auch wiederum ganz in ordnung ist, denn während man auf etwas wartet, kann man schon mal eine ganze menge erledigen. einen kaffee trinken zum beispiel, in einem buch blättern, ein schwätzchen halten oder mit anderen worten: man kann leben, während man wartet.

jón kalman stefánsson „der sommer hinter dem hügel“

(unschuld)

welche wirkung aber hat nichts? es gebiert angst. das ist das tiefe geheimnis der unschuld, dass sie zu gleicher zeit angst ist. träumend projektiert der geist seine eigene wirklichkeit, diese wirklichkeit aber ist nichts, dieses nichts aber sieht die unschuld ständig außerhalb ihrer.

kierkegaard „der begriff der angst“

(kunst kommt von …)

kunst kommt von können oder kennen her (nosse aut posse), vielleicht von beiden, wenigstens muß sie beides in gehörigem grad verbinden. wer kennt, ohne zu können, ist ein theorist, dem man in sachen des könnens kaum trauet; wer kann ohne zu kennen, ist ein bloßer praktiker oder handwerker; der echte künstler verbindet beides.

johann gottfried herder „kalligone“ (erste belegte formulierung aus dem jahr 1800)

(stillleben)

das leben ist politik, die menschlichen verhältnisse – das alles ist politik. zuerst sind die bilder stumm. allerdings kann ein bild oder eine bildgruppe in einem bestimmten zusammenhang ein politisches moment bekommen.
ich war am 11. september in new york und habe alles noch genau in erinnerung. als ich zwei wochen später wieder in belgien war, kam mir die idee, dass man nur eine idylle malen könnte, und das nicht als historienbild, sondern in der letzten, der unwichtigsten kategorie der malerei: das stilleben. (…) ein stilleben nach nine/eleven ist eigentlich ein ziemlich sardonistischer witz, und das ist im grunde sehr politisch. aber eine moralisierung sollte für immer ausgeschlossen sein.

luc tuymans, 2002

(zeit)

aber die zeit … die zeit, die uns erst lähmt und dann beschämt. wir hielten uns für reif, dabei gingen wir nur auf nummer sicher. wir hielten uns für verantwortungsbewusst, dabei waren wir nur feige. was wir realismus nannten, erwies sich als manier, den dingen aus dem weg zu gehen, statt ihnen ins auge zu sehen. zeit … man gebe uns genügend zeit, und unsere fundiertesten entscheidungen scheinen wackelig, unsere gewissheiten bloße schrullen.

julian barnes “vom ende einer geschichte”

(rechtfertigung)

er war intelligenter und seinem wesen nach rigoroser als ich; er dachte logisch und handelte dann nach dem, was sich aus dem logischem denken ergab. wir anderen hingegen tun, fürchte ich, meist das gegenteil: wir treffen eine instinktive entscheidung und bauen uns dann eine infrastruktur von argumenten auf, um diese entscheidung zu rechtfertigen. und das ergebnis nennen wir gesunden menschenverstand.

julian barnes „vom ende einer geschichte“